Anmerkungen zur Zeitenwende
Unter Verweis auf Kanzler Scholz beginnt Claudia Weber ihre Analyse mit der Feststellung, dass der Terminus "Zeitenwende" geradezu inflationär verwendet wird, um die Kriege in der Ukraine politisch einzuordnen. "Zeitenwende" sei ein großes Wort, fährt sie fort, um dieses dann wie folgt zu definieren: (1)
Eine Zeitenwende konfiguriert das identitäts- und orientierungsstiftende Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu,
wenn im Koselleckschen Sinne Erfahrungsraum und Erwartungsraum beginnen auseinanderzuklaffen. (2)
Was mit dem Begriffspaar von Kosellek gemeint ist, ergibt sich im Folgenden aus Webers Analyse: Putins Angriffskrieg sei kein unzeitgemäßer Erfahrungsraum, der dem europäischen Erwartungshorizont zuwiderlaufe. Nach Ansicht von C. Weber fehlt vielen Nutzern des Begriffs "Zeitenwende"ein angemessenes Verständnis für den Charakter traditioneller europäischer Großmachtpolitik. Seit dem Wiener Kongress 1814/15 hat sich als Ordnungssystem in Europa, die Pentrarchie (das meint die Hegemonie der 5 Großmächte) etabliert. Dieses System hat für eine halbes Jahrhundert (bezogen auf das 19.Jh.) den Frieden in Europa weitgehend stabilisiert, allerdings zu Lasten demokratischer und freiheitlicher Bewegungen, die nach nationaler Unabhängigkeit strebten, besonders in östlichen Raum Europas. Der 1. Weltkrieg brachte zwar deutliche Veränderungen auf die politische Landkarte, aber die Idee der Mächtebalance blieb als Prinzip präsent.
Die Nachkriegsordnung ( 2. Weltkrieg post) wird von Claudia Weber zwar nicht näher beschrieben, aber auch hier existieren wesentliche Elemente des ideologieübergreifenden Pentarchie-Agreements ( Ost-West-Balancing). Die osteuropäischen Staaten wurden der UdSSR, der östlichen Supermacht, zugeschlagen, Deutschland nach dem Kriterium des Mächtegleichgewichts geteilt. Neu war allerdings die Hinzunahme einer westlichen Supermacht (USA). Diese Friedenordung, de facto ein Kalter Krieg, war brüchig, hat aber trotzdem über Jahrzehnte eine kriegsverhindernde Funktion gehabt, wenn auch Deutschland und die osteuropäischen Länder den Preis für dieses System zu zahlen hatten.
Nur 12 Jahre, so Weber, von 1989 bis 2001 bot sich die Perspektive einer anderen Friedensordnung, die Weber aber nicht näher beschreibt. Fukuyama verweist aber in seiner These vom Ende der Geschichte auf diese Zeit. (3)
Seit 2001 dominiert, da ist Weber zuzustimmen, eine globale Unruhe, und es herrscht eine allgemeine Ungewissheit, wie eine stablisierende Weltordnung aussehen könnte.
Zieht man aus dieser Skizzierug einen Schluss, dann ist die Scholz'sche These, auf Europa bezogen, widerlegt. Der Ukraine-Krieg ist kein Neubeginn einer Zeit, sondern setzt die traditionelle Großmacht-Politik fort und steht in der europäischen neuzeitlichen Tradition. Angemerkt sei aber fairerweise, dass Scholz diesen Tatbestand ansatzweise angesprochen hat: "ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts..." (Seite 2 seiner Rede).
Allerdings ist er in seiner Rede nicht weiter auf diese Sachverhalte eingegangen. Betrachtet man die These von der Zeitenwende global, dann dürfte das bipolare System mit zwei Supermächten der Vergangenheit angehören.