Zeitenwende ...
"Der 24.2.2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents", mit diesen Worten eröffnete Bundeskanzler Olaf Scholz seine Regierungserklärung vom 27.2. desselben Jahres. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sei die Welt nicht mehr dieselbe wie davor.(1) Damit verleiht der Kanzler diesem Überfall den Rang eines epochalen Ereignisses, womit sich die Zeitgewissheit in Zukunftsunsicherheit verwandle, so die begrifflichen Bestimmung des Historikers M. Sabrow für Zeitenwende.(2) Und die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte Ende 2022 diesen Begriff zum Wort des Jahres.(3) Und "der Begriff Zeitenwende ist seit der Rede von Bundeskanzler Scholz Ende Februar 2022 ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses", so die Friedrich-Ebert-Stifung in einer Studie zur Zeitenwende, die auch ausführlicher auf die Rede des Kanzlers eingeht.
Wer sich eingehender mit diesem Fachbegriff beschäftigen möchte, dem seien neben der schon genannten Studien zwei weitere Artikel empfohlen. Der eine entstammt der Feder des schon zitierten Historikers Sabrow und verfolgt die Zeitenwende bis in die griechische Antike zurück, versucht dann den Terminus von gleichartigen abzugrenzen, um so die Zeitenwende an sich präziser zu fassen. Die Historikerin Claudia Weber setzt ihren Schwerpunkt auf die Neuzeit (bes. ab 19. Jh.) und überprüft kritisch die sachliche Berechtigung, den Terminus Zeitenwende auf das Jahr 2022 anzuwenden. Sie kommt in ihrer scharfsinnigen Analyse (5) insgesamt zu einem negativen Ergebnis. Dem Kanzler ist nur in seinem Verweis auf die "Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts" zuzustimmen. Seiner Ausgangsthese fehlt die sachliche Berechtigung, sie ist ein verbaler Paukenschlag aus dramatisch-rhetorischen Gründen. Deshalb auch die media-res-Technik als rhetorisches Mittel. Einzelheiten zu diesem Komplex auf einer speziellen Seite mit einer an Weber angelehnten Beweisführung, zeitnah verfügbar und hier verlinkt werden soll. (6)
...oder nur Zeitgeister?
Aus der Sicht von 2024, also zwei Jahre nach Ausrufung der Zeitenwende mit rhetorischem Aplomb, läuft der Kanzler Gefahr, sich als Scheinriese zu präsentieren. Untersucht man, was in den zwei Jahren aus den fünf Handlungsaufträgen geworden ist, die der Ausrufung der Zeitenwende folgen, zeichnet sich folgende Entwicklung ab: Soweit die westliche Zusammenarbeit betroffen ist, besteht die militärische Unterstützung der Ukraine fort; wobei es deutliche Reibungsverluste gibt. Die Beistandspflicht in der NATO wurde keiner ernsthaften Prüfung unterzogen. Politische Initiativen gegenüber Russlands sind nicht erkennbar oder an die Öffentlichkeit gedrungen.
Problematisch werden Maßnahmen im Rüstungsbereich, wenn sie Geld kosten. Nachdem das Sondervermögen Bundeswehr weitgehend aufgebraucht ist, entstehen für die kommenden Jahre Finanzierungslücken, die wegen der Schuldenbremse Probleme bereiten. Im September 2024 laufen Kanzler und Finanzminister Gefahr, als Hilfsbuchhalter der Nation (7) in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.
Das Grund genug, das Thema Schuldenbremse, das den Zeitgeist so mancher deutscher Politiker prägt, einmal näher zu beleuchten, s. im Untermenu Schuldenbremse.